In den Medien: Interview mit Roland Dörig über die Energiekrise

Energiepreise explodieren: «Da kann die Stromrechnung schnell fast gleich teuer werden wie die Wohnungsmiete»

In den Medien: Interview mit Roland Dörig über die Energiekrise

Roland Dörig investiert im Auftrag von Pensionskassen Milliarden in die Energieinfrastruktur. Was passiert, wenn Putin den Gashahn zudreht? Wie entwickeln sich die Strompreise? Und was läuft falsch in der Energiepolitik? Der Mitgründer der Firma Energy Infrastructure Partners spricht Klartext.

Von Rolf Cavalli und Patrik Müller

Ursprünglich veröffentlicht am 20. Juli 2022 von CH Media.
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Kurz nach Kriegsbeginn malten Sie in einem Hintergrundgespräch mit uns ein düsteres Bild. Sie meinten, ohne russisches Gas drohe der europäischen Wirtschaft der Kollaps. Wie sehen Sie die Lage heute?

Roland Dörig: Es hat sich leider bewahrheitet: Westeuropa kann vorderhand nicht auf russisches Gas verzichten.

Damals diskutierten wir, ob der Westen Putins Gas boykottieren soll. Jetzt fürchten wir umgekehrt, dass Putin uns das Gas abstellt.

Aus meiner Sicht war dies damals kein ernsthafter Diskurs, sondern eher eine emotionale Reaktion auf Putins Angriffskrieg. Denn von Russland gar kein Gas mehr zu beziehen, wäre sowohl für die Wirtschaft als auch die Bevölkerung kurz- bis mittelfristig nicht umsetzbar gewesen.

Die Deutschen waren von Anfang zurückhaltender mit Forderungen eines Gas-Boykotts.

Klar, russisches Gas ist für Deutschland seit Jahrzehnten ein besonders wichtiger Energieträger, insbesondere auch, seit die meisten Kernkraftwerke dort ersatzlos vom Netz genommen wurden. Ironischerweise hat dort nun ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister in einer Notfallübung Kohlekraftwerke wieder ins Spiel gebracht und versucht, Flüssiggas aus Katar zu organisieren.

Müssen wir die grünen Vorsätze und die Klimaziele über Bord werfen?

Dazu muss ich kurz ausholen: Um die Jahrtausendwende wurden der Strommarkt liberalisiert und gleichzeitig die Dekarbonisierung in Europa zum zentralen Thema erklärt. Die Politik hat in der Folge mit hunderten Milliarden Euro an Subventionen den Ausbau der Stromproduktion aus Wind- und Sonnenkraft gefördert…

…was die Preise drückte.

Der rasche Zubau dieser stark subventionierten Produktionsanlagen führte dazu, dass die Preise für Strom aus nicht-subventionierter Erzeugung massiv sanken. Die Folge: Die bestehende Stromproduktion – etwa auch aus unserer heimischen Wasserkraft – war wirtschaftlich gesehen über viele Jahre nicht einmal mehr kostendeckend, obwohl diese aber für die Versorgungssicherheit notwendig war.

Es kam zu Preisverzerrungen?

Ja, und diese führten dazu, dass in den letzten 10 bis 20 Jahre insgesamt nicht genügend in die Europäische Energieinfrastruktur investiert wurde. Wir haben enormen Nachholbedarf! Um auf Ihre konkrete Frage zurückzukommen: Nein, wir dürfen die ökologischen Ziele nicht über Bord werfen. Eine tragfähige Energieversorgung muss aber auch wirtschaftlich, sprich bezahlbar, sein – und vor allem: sicher!

Zur Zeit wird aber die Versorgungssicherheit viel höher gewichtet als die Ökologie.

Weil wir der Versorgungssicherheit in den letzten 20 Jahren keine Beachtung geschenkt haben. Wir haben von der Substanz gelebt. Jetzt holt uns dieses Versäumnis ein. Ohne Versorgungssicherheit kann es keine Dekarbonisierung und keine bezahlbare Energieversorgung geben. Das Schlimme: Wir stossen heute weltweit sogar mehr CO2 aus denn je.

Was lief schief?

Der ökologische Umbau wurde leider planwirtschaftlich angegangen. Es wurden einzelne Technologien gefördert, anstatt das dafür notwendige Gesamtsystem. Dadurch wurden alle anderen Technologien aus dem Markt gedrängt, obwohl Wind- und Sonnenkraft Reservekapazität und anspruchsvolle Netzinfrastruktur benötigen. Gaskraftwerke zum Beispiel hatten keine Chance, obwohl man sie brauchte.

Aber Sie investieren doch im grossen Stil.

Ja, wir haben uns gerade deshalb ausschliesslich auf den Energiesektor spezialisiert. Wir investieren für unsere Kunden in versorgungskritische und ökologische Energieinfrastrukturanlagen – mit einer konservativen, ja langweiligen Anlagestrategie. Die Grundidee: Die Schweizer Bevölkerung investiert via Pensionskassen in ihre eigene Energieversorgung. So kann sie diese sicherstellen und damit gleichzeitig einen Beitrag an die eigene Rente erwirtschaften.

Wie haben sich diese Anlagen in den aktuellen Preisturbulenzen entwickelt?

Natürlich hervorragend, wir investieren in Anlagen, die Mangelware sind. Und zwar nicht für den nächsten oder übernächsten Winter, sondern für die nächsten Jahrzehnte. Die Elektrifizierung schreitet voran und wir werden in naher Zukunft einen deutlich höheren Strombedarf haben; dabei haben wir heute schon zu wenig Strom.

Wo soll die Schweiz ausbauen?

Wir investieren in Europa und weltweit vor allem in Wind- und Solarenergie. In der Schweiz liegt der Fokus auf Wasserkraft und – ganz wichtig – den Transport und die Verteilung von Energie. Der Ausbau der Netze und mehr Flexibilität bei der Stromproduktion werden wichtig. Wenn es zu wenig Sonne oder Wind hat, muss man entsprechend andere Energiequellen anzapfen können. Deshalb ist auch die Energiespeicherung zentral.

Unter Dekarbonisierung hätte auch die Atomenergie Platz…

…ja, aber das ist aus unserer Sicht nur eine langfristige Option. Wir haben auf kurze und mittlere Sicht ein Problem mit der Energieversorgung. Bis wir die erste Megawattstunde aus einem neuen AKW haben, vergehen vielleicht 20 bis 25 Jahre. Bis dahin müssen wir das Energieproblem aber längst gelöst haben.

Die Schweiz verfolgt seit der von Doris Leuthard eingeleiteten Energiepolitik eine Importstrategie. Ist das in Zeiten von Putin noch der richtige Fokus?

Das war vorher schon nicht richtig. Man hat auf erneuerbare Energien mit sehr sportlichen Annahmen gesetzt, die sich heute als unrealistisch herausstellen und sich beim Rest einfach auf Stromimporte verlassen. Das war schon immer die Achillesferse dieser Strategie.

Ist es realistisch, die Schweiz langfristig ohne Import mit Strom zu versorgen?

Nein, aber die Schweiz muss sich definitiv viel unabhängiger aufstellen. Wir müssen alles nutzen, was erneuerbar ist. In der Schweiz ist das vor allem die Wasserkraft, die noch grosses Ausbaupotenzial bietet.

Kurz vor dem Krieg hat Bundesrätin Sommaruga für 2025 Gaskraftwerke angekündigt. Ist das gut oder schon wieder überholt?

Ein breites Portfolio an Energiequellen ist wichtig. Dazu gehören vorübergehend auch Gaskraftwerke. Zuvorderst steht aber wie gesagt Wasserkraft, diese müssen wir unbedingt ausbauen.

Was kann man kurzfristig machen, damit wir im nächsten oder übernächsten Winter nicht frieren?

Da bringen Sie mich in Verlegenheit. Ich sehe nur das Prinzip Hoffnung. Hoffen auf einen warmen Winter, hoffen auf eine Entspannung in der Ukraine, hoffen, dass Nordstream 1 wieder in Betrieb genommen wird. Nichtsdestotrotz ist es zentral, jetzt eine schonungslose Analyse zu machen und Massnahmen abzuleiten.

Nebst dem Prinzip Hoffnung gäbe es noch das Prinzip Deal: Ems-Chefin Magdalena Martullo-Blocher fordert Friedensverhandlungen mit Putin, um sicherzustellen, dass russisches Gas weiterhin fliesst.

Das ist eine politische Frage. Betrachtet man sie isoliert mit Blick auf die Versorgungssicherheit, müsste man einen solchen Deal anstreben, denn es ist eine Tatsache, dass sich fossile Energie aus Russland nicht kurzfristig vollständig ersetzen lässt. Aber es gibt selbstverständlich noch andere Aspekte als die Versorgungssicherheit. Die Politik muss diese Abwägung vornehmen.

Sollte es im Winter zu Engpässen kommen, müssten gemäss Notkonzept des Bundes zuerst grosse Unternehmen auf Energie verzichten und Fabriken abschalten, erst am Schluss müssten die Haushalte bluten. Macht diese Priorisierung Sinn?

Das kommt drauf an, wie lange die Mangellage anhält. Dauert sie nur einige Tage, könnte die Industrie diese Engpässe wahrscheinlich am besten überbrücken. Geht man aber von einer langen Periode aus, sechs Monate oder gar ein Jahr, reicht das bei weitem nicht mehr. Darauf ist das Notkonzept nicht ausgerichtet. Dieses funktioniert zum Beispiel bei Unfällen wie damals in Italien, als ein Ast auf eine neuralgische Leitung fiel und dort für einen Tag der Strom ausfiel. Aber nicht bei längeren Unterbrüchen.

Fliesst kein Gas mehr, trifft das nicht nur die Industrie und die Haushalte, die mit Gas heizen, sondern auch alle, die Strom brauchen. Denn die Schweiz importiert im Winterhalbjahr viel elektrische Energie, die aus europäischen Gaskraftwerken stammt…

Richtig, und dessen ist man sich in der Schweiz viel zu wenig bewusst. Weil wir selbst ja keinen Strom aus Gas produzieren. Zumindest bis jetzt. Die Abhängigkeit der Schweiz vom Gas wird in der öffentlichen Meinung völlig unterschätzt. Die chemische Industrie wäre in ihrer Existenz bedroht, würden die Lieferungen ausfallen.

Russland hat die Liefermengen bereits gedrosselt, mit der Folge, dass die Energiepreise stark angestiegen sind.

Ja, und zwar nicht nur für das Gas aus Russland, sondern auch – und zwar massiv – für den Strom. Und weil ein Unglück selten allein kommt: In Frankreich steht seit einigen Monaten aufgrund ungeplanter Instandhaltungsarbeiten etwa die Hälfte der Kernkraftwerke still – eine Megawattstunde kostet dort im Durchschnitt tagsüber – also peak load – etwa 2000 Euro, wenn man sie heute für den November einkauft. Der normale Preis liegt bei unter 100 Euro.

Kann das sein? Dass der Preis 20-mal höher geworden ist?

Das sind die aktuell geltenden Preise. Stellen Sie sich einmal vor, was das für die Stromrechnung eines Haushalts bedeutet. Da kann diese schnell fast gleich teuer werden wie die Wohnungsmiete. Dramatisch wird es für die Industrie: Zu diesen Energiekosten lässt sich in Frankreich kein Auto mehr wettbewerbsfähig herstellen. In Europa kann man unter diesen Voraussetzungen keine Industrie aufrechterhalten, da die Energie in Asien und Nordamerika um ein Vielfaches günstiger ist.

Zum Verständnis: Der Strompreis für November, den Sie nannten – ist das eine Prognose?

Nein, dies sind die aktuell gültigen Preise. Wenn ein Unternehmen heute Strom einkauft, zahlt es zurzeit für jede Stunde im November 2000 Euro statt wie sonst üblich 100 Euro.

Warum soll ich jetzt für diese exorbitanten Preise Strom einkaufen?

Weil Sie nicht wissen, ob Sie im Oktober dafür statt 2000 vielleicht sogar 5000 Euro bezahlen werden.

Das ist wie bei den Hypozinsen: Man sichert sich langfristig ab?

Ja. Schauen wir noch die Preise in Deutschland an: Da sind wir für November bei ca. 650 Euro pro Megawattstunde, in der Schweiz bei über 700 Franken. Das sind Durchschnittswerte für das vierte Quartal.

In der Schweiz sind es somit etwa zehnmal mehr als üblich?

Ja, das stimmt als Grössenordnung. Durch den vorher beschriebenen forcierten Zubau der Erneuerbaren stellten sich in den letzten Jahren zunehmend niedrige Preise für Strom ein. Der Ausbau anderer Erzeugungsarten wurde somit unattraktiv und vernachlässigt. Das rächt sich jetzt doppelt.

Im Herbst und Winter werden die Schweizer Stromverbraucher also massiv höhere Stromrechnungen erhalten.

Ja, aber es wird von Energieversorger zu Energieversorger unterschiedlich sein, weil diese für Strom unterschiedliche Beschaffungs- und Absicherungsstrategien haben. Es könnten sich gewaltige Unterschiede zeigen.

Dann muss man nicht mehr aus Steuergründen in einen anderen Kanton oder eine andere Stadt ziehen, sondern aus Gründen der Energiekosten…

Das ist überspitzt formuliert, aber es ist eine neue Situation, auf die wir uns einstellen müssen.

Viele Haushalte werden bei diesen enormen Preisen die Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Sollte da der Staat – wie bei den Corona-Härtefällen – einspringen?

Auch das ist eine politische Frage. Wichtig ist, dass die öffentliche Hand nicht den Fehler macht, den Strompreis direkt zu beeinflussen. Das hat Italien getan. Dann investiert kein Unternehmen mehr in die langfristige Stromproduktion und in die Infrastruktur. Das Wichtigste, was die Politik tun sollte, ist Folgendes: Verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Unternehmen und Investoren langfristig in den Energiesektor investieren. Nur so erreichen wir Versorgungssicherheit und Dekarbonisierung bei tragbaren Kosten gleichzeitig.

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